Schatztruhe voller Details

Händel - Dixit Dominus / Cakdara - Missa Dolorosa

Kritik von tocafi, 30.09.2004

Interpretation:
Klangqualität:
Repertoirewert:
Booklet:
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Das Rom der ersten Dekade des 18. Jahrhunderts muss der aufregendste Ort der damaligen Musikwelt gewesen sein. In einer Epoche tumultöser Umbrüche und unsteter Konstellationen bot die Stadt Komponisten und Instrumentalisten nicht nur relative Sicherheit und Schutz vor militärischen Unruhen, sondern zudem finanzkräftige Mäzene und ein spendables, aufgeschlossenes Bildungspublikum. Brüderschaften, reiche Familien, der Papst und der Apparat des Vatikan sowie mehr als 80 Kirchen umwarben die Künstler und konkurrierten geradezu um das Recht, diesen tatkräftig unter die Arme greifen zu dürfen (wie man in einem interessanten Artikel auf classical.net nachlesen kann). Auch wenn die Utopie eines Kulturstaates nur wenige Jahre in der oben beschriebenen Form Bestand hatte, bleibt der reiche Katalog der in dieser Spanne entstandenen Werke bis heute nur unzureichend ausgewertet. Auch Händels Frühwerk, 'Dixit Dominus' (den 'Dominus' müssen wir uns auf dem Cover wohl durch die Wolken symbolisiert denken), 1707 verfasst zum Anlass des Namenstages des spanischen Königs Philipp V., gelangte erst spät und immer im Schatten des alles überstrahlenden 'Messiah' zu einiger Anerkennung - eine historische Ungerechtigkeit und eine eigentlich kaum nachzuvollziehende Nachlässigkeit.

Denn der Einfallsreichtum und die Vielfalt an Stimmungen bei trotzdem fließenden Übergängen und einem stets den Weg leuchtenden roten Faden machen das Stück zu einem Juwel im Schaffen eines Meisters, den Beethoven seinerzeit als den größten Komponisten aller Zeiten bezeichnete. Trotz einiger namhafter Proteges (Gardener) und Interpretationen mit Stars der aktuellen Gesangszunft (Magdalena Kozena) bleibt es eine Schatztruhe voller wundervoller Details, die man wie Ostereier suchen kann und deren volle Pracht und Tiefe sich wohl erst nach mehrfachem intensiven Hören eröffnen wird. Gleichzeitig kann man sich aber schon direkt an der schillernden Oberfläche des ersten Kontakts erfreuen: An emotionaler Wirkung ist 'Dixit Dominus' kaum zu übertreffen. Da kann man auf theoretisch-philosophischer Ebene noch so lange reden und darüber diskutieren, ob die Affektebene in Wahrheit überhaupt eine objektive Qualität darstellt, wenn man beim Hören fast zu Tränen gerührt wird, ist das alles plötzlich recht belanglos. Auch Antonio Caldara hielt sich im goldenen Zeitalter Roms dort auf und so erscheint diese Zusammenstellung mehr als gerechtfertigt. Dagegen sprechen jedoch zwei Fakten. Zum einen lebte ja nicht nur Caldara damals quasi Tür an Tür zu Händel. Da gab es auch noch Allesandro und Domenico Scarlatti, Cesarini, Pasquini, Anrcangelo Corelli und andere. Gerade weil Caldara sich in seiner römischen Zeit auf weltliche Werke beschränkte, ist die Auswahl zumindest hinterfragbar. Zum zweiten, und das wiegt bedeutend schwerer, entstand die 'Missa Dolorosa' erst 1735, also gut ein Vierteljahrhundert nach Händels Versvertonung. Da auch nicht bekannt ist, dass sich die beiden Komponisten über Gebühr gegenseitig beeinflussten oder inspirierten, handelt es sich hierbei um eine weitere leicht fragwürdige Kopplung (Gardiner füllte die restliche Spielzeit mit Vivaldis 'Gloria').

Immerhin: Das Album ist ausgewogen und ohne eklatante Brüche und die Gegenüberstellung nicht einmal uninteressant, auch wenn die Autoren indirekt zugeben, dass bei der noch nicht einmal ansatzweise gesichteten Anzahl geistlicher Werke Caldaras kaum festzustellen sein dürfte, ob die hier präsentierte Messe zu den Spitze seines Schaffens zu zählen ist. Im direkten Vergleich wirkt sie atomisierter und kann durch ihre (wohl aufgrund praktischer Vorbehalte bedingte) Vermeidung etwas weitläufiger ausholender Bögen einen leicht zersplitterten Eindruck nicht vermeiden. Großartige Gebrauchsmusik ist das, mit vielen feinen Momenten, welche sich aber nicht immer im heimischen Sessel erschließen. Potentiellen Glanzstücken wie dem 'Crucifixius' fehlen ein wenig die Flügelspanne, um sich gen Himmel zu erheben. Das prächtige 'Agnus Dei' hingegen braucht gar nicht mehr als anderthalb Minuten, um als beglückendes Kleinod durchzugehen.

Die Leistung der beteiligten Musiker ist mehr als ordentlich und der rasante Ansatz, der mancherorts als überzogen kritisiert wurde, steht dem 'Dixit' gut zu Gesicht. Ein besonderes Lob auch an das Produzententeam Michael Sander und Jakob Händel (!). Ihre mutige und anregende Klangphilosophie mit einer sehr dynamischen Stimmführung führt zu einer Vielzahl spannender und ungewöhnlicher Momente. Und das, abseits aller aufführungspraktischen Erörterungen, fängt die Aufbruchsstimmung des alten Roms auf vorbildliche Art und Weise ein.


tocafi [30.09.2004]
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