Maurice Ravel - L' enfant et les sortilèges

Künstlerische Qualität: Bewertung 8
Klangqualität: Bewertung 8
Gesamteindruck: Bewertung 8
Besprechung: 02.06.17

Vielleicht bin ich zu anspruchsvoll, zu pingelig oder einfach zu naiv ­ doch ich bilde mir ein, dass eine Produktion, die aus (begreiflichen) Kostengründen auf den Abdruck eines (mehrsprachigen) Librettos verzichtet, zumindest mit einer ausführlichen und nachvollziehbaren Angabe des Geschehens aufwarten sollte, anstatt die kostbaren Seiten des Beiheftes ausführlichsten Lebensläufen zu widmen, die ihrer künstlerischen Informationspflicht auch in gedrängterer Form Genüge täten.
Gewiß könnte man mir entgegnen, dass die hier beigefügte Inhaltsangabe mit ihren knapp zweieinhalb Spalten völlig hinreichte, weil L'Enfant et les sortilèges ohnehin in aller Welt bekannt sei. Doch auf die Erklärung, warum ausgerechnet die witzigsten, schrulligsten Ereignisse in der Nacherzählung fehlen, wäre ich gespannt: Der unwiderstehliche Chor der Frösche und das schnurrig-fauchende Katzenduett etwa werden völlig unterschlagen, der zwerchfellerschütternde Dialog des britisch-chinesischen Teegeschirrs und das arithmetische Bombardement des alten Männleins finden scheinbar nur am Rande statt ...
Diese Form der “Textkritik" wäre erheblich kürzer oder gänzlich ausgefallen, wenn ich beim Hören der vorliegenden Aufnahme nicht dasselbe Defizit hätte beobachten müssen: die weitgehende Vermeidung humoriger Aspekte, an deren Stelle eine merkliche Routine steht, die zwar für mancherlei gelungene Episoden sorgt, insgesamt aber sicher nicht hinreicht, um der dreiviertelstündigen Fahrt durch die kaleidoskopische Geisterbahn den gebührenden Schwung oder gar jenen “Jazz" zu verleihen, ohne den Maurice Ravels Zauberkunststück undenkbar ist. Man vergleiche nur den eher klassisch wohlgestalteten, sehr schön im Raum postierten Chor der Schäfer/innen, das feine Bicinium von Flöte und Prinzessin oder den naturhaften Beginn des zweiten Teils mit der bürokratischen Teekanne und dem harmlosen Gemaunze der beiden Stubentiger, die doch Grund genug hätten, dem Kinde (das sich für meinen Geschmack übrigens zu “erwachsen" durch die phantastische Welt singt) die Krallen zu zeigen. Das Potential wäre durchaus vorhanden gewesen: Die Stimmen sind tadellos, das Orchester agiert sowohl kollektiv als auch solistisch vorzüglich ­ warum also nicht den versammelten Akteuren ein wenig die Zügel schießen und sie mit den Wunderdingen spielen lassen? Auch ma mère l'oye, im Jahre 2013 in der Stuttgarter Liederhalle mitgeschnitten, hätte durch diese Einstellung nur gewinnen können.

Rasmus van Rijn [02.06.2017] Klassik Heute Logo


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